Olaf Behrendt
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Teachers, Leave them Kids alone

"Erkenntnis macht frei, Bildung fesselt, Halbbildung stürzt in Sklaverei." - Wilhelm Raabe

Kurze Einführung der mathematischen Methode

Die axiomatische Methode der Mathematik gründet auf einigen, ohne Beweis angenommen Grundaussagen, den Axiomen, die nicht mehr hinterfragt werden. Alle mathematischen Sätze (Aussagen) dürfen nur aus diesen Axiomen, bzw. schon zuvor aus ebendiesen bewiesenen Sätzen, durch logisches Schließen abgeleitet werden. Die axiomatische Methode ist die definierende Eigenschaft der Mathematik und exakten Wissenschaften seit Euklids Elementen.

"Alles muss bewiesen werden, und beim Beweisen darf man nichts außer Axiomen und früher bewiesenen Sätzen benutzen." Blaise Pascal.

Im mathematischen Schließen Ungeübten fällt es häufig schwer zu erkennen, dass eine geläufige und selbstverständlich erscheinende mathematische Regel bewiesen — also aus Axiomen oder anderen bewiesenen Sätzen abgeleitet — werden muss. Vielen mag die folgende Aussage auf dem ersten Blick völlig einsichtig sein (für durch "Alltagsmathematik" noch nicht "verdorbene" junge Menschen gilt das glücklicherweise meist nicht):

\begin{equation*} 0 < a < b \Rightarrow \sqrt{a} < \sqrt{b}. \end{equation*} Trotzdem muss die obige Aussage aus vorher aufgestellten Axiomen und/oder aus diesen Axiomen abgeleiteten Rechenregeln hergeleitet werden (einen solchen Beweis findet der interessierte Leser ganz unten). Tatsächlich müssen Studenten der Mathematik am Anfang des ersten Semester solche oder ähnliche Beweise führen, um die axiomatische Methode zu lernen und auch auf dem ersten Blick anschaulich einsichtige Sachverhalte erst dann zu folgen, wenn sie einer mathematischen Überprüfung standhalten.

Gymnasiasten fehlen elementare mathematische Methoden

Im G8 Lehrplan für bayerische Gymnasien findet sich die mathematische Methode ausschließlich in der Oberstufe und dort auch nur im Rahmen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs (10 Stunden) wieder. Deshalb muss man wohl eher von Rechenuntericht als von Mathematikuntericht sprechen. Das lässt sich auch leicht selber überprüfen: Fragen sie einfach eine Gymnasiastin, ob sie erklären kann was ein Axiom in der Mathematik ist, ob sie Beispiele für Axiome nennen kann, und was man unter axiomatischer Methode versteht.

Ich persönlich finde das sehr Schade. Denn die mathematisch deduktive Denkweise schult nach meinem Dafürhalten nicht nur das logisch-kritische Denken in der Mathematik, sondern hilft auch darüber hinaus mehr von der uns umgebenen Welt zu begreifen und kritisch zu hinterfragen. Nehmen wir das Beispiel in den Medien oder auch privat geführte Diskussionen zu politischen, wirtschaftlich oder ethischen Themen. Hier kann die Frage nach den zugrunde liegenden Voraussetzungen ("Axiomen"), also auf welchen Werte und Weltanschauungen baut eine Meinung oder Auffassung auf, schon viel zur Einordnung und zum Verständnis beitragen. Halten die kausalen Beziehungen einer kritischen Prüfung stand, bauen sie logisch aufeinander auf und welche, vielleicht nicht genannten Voraussetzungen gehen dabei ein? Gibt es Widersprüche in der Argumentation oder den Voraussetzungen? Es scheint mir daher klar sein, dass die mathematische Methode eine Grundziel jeder schulischen Ausbildung sein sollte — und das nicht nur im Zeitalter von Fakenews zum Erlernen des kritischen Umgangs mit medialen Inhalten.

Schulbuchautoren ringen mit der mathematischen Methode

Um so erstaunlicher fand ich es in einem gymnasialen Mathematikbuch der neunten Jahrgangsstufe (für den naturwissenschaftlich-technologischen Zweig) Lambacher Schweitzer 9 (1) überhaupt einen Beweis zu finden. Einerseits, da bis jetzt ja niemals die mathematisch axiomatische Methode eingeführt wurde, aber andererseits auch, da sich nach genaueren Hinschauen herausstellt, dass der "Beweis" Grundsätze der mathematischen Methode verletzt (weiter unten werde ich detailiert auf diesen Beweisversuch der Aussage $\sqrt{2}\notin\mathbb{Q}$ eingehen). Aus diesem Grund kann er auch weder von Schülern noch Eltern verstanden werden. Erfahrungsgemäß wird er aber leider auch kaum von Lehrern nachvollzogen. Was ich traurig finde, denn Lehrer haben letzlich den größten Einfluß auf den Unterricht und könnten so viele Fehlentwicklungen zumindest zum Teil abfangen.

Dass dies Vorgehen weder Interesse noch Motivation bei den Schülern wecken kann, sondern vielmehr der Entfremdung vom Schulstoff dient, finde ich offenkundig. Da erscheint das schlechte Abschneiden deutscher Abiturienten in den internationalan TIMSS Studien dann auch nicht wirklich zu überaschen (in den neueren TIMSS Studien nimmt Deutschland nur noch mit der Grundschule teil — ein Schelm wer böses dabei denkt):

In der internationalen Spitzengruppe sind die deutschen Schüler nicht vertreten. Je anspruchsvoller eine Aufgabe, umso mehr fallen die deutschen Abiturienten hinter Schülern anderer europäischer Länder zurück (TIMSS Studie in Wikipedia)

Wo ist das mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasien?

Interessanterweiser hat die heutige Bezeichnung naturwissenschaftlich-technologisches Gymnasium die frühere Bezeichnung mathematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium in Bayern abgelöst. Erkennt man hier etwa in dem Wechsel der Bezeichnung die Wende weg von einer vormals eher humanistisch (im Sinne einer individuellen Persönlichkeitsentwicklung) angedachten Ausbildung, hin zu einer möglichst berufsnahen und wirtschaftlich verwertbaren Ausbildung? Die "theoretische" Mathematik wird durch die anwend- und verwertbare Technik ersetzt? Werden die tendenziell beruflich nicht verwertbaren schöne Künste aus den Lehrplänen getilgt, ähnlich wie akademische Freiheiten im Rahmen des Bologna-Prozesses durch Credit-Systeme und Verschulung an den Universitäten ersetzt wurden?

Mathematisches

Nach diesen zum Teil spekulativen Vorgedanken möchte ich jetzt aber meine Behauptung — dass der Schulbuchbeweis nicht der axiomatischen Methode folgt — ausführlich begründen. Es geht um den berühmten Beweis, dass die Quadratwurzel aus zwei $\sqrt{2}$ keine rationale Zahl ist. Zuvor vielleicht ein paar Worte zum fachlichen Kontext. Die Autoren versuchen die Einführung der reellen Zahlen zu motivieren, indem sie zeigen wollen, dass die rationalen Zahlen $\mathbb{Q}$ nicht alle Zahlen umschließt ("unvollständig" ist). Also konkret, dass die Gleichung $x^2=2$ keine rationale Lösung besitzt, bzw. dass $\sqrt{2}\notin\mathbb{Q}$ ist. Doch leider will Ihnen weder der Beweis zu $\sqrt{2}\notin\mathbb{Q}$ gelingen, noch zeigen sie später dass $\sqrt{2}$ tatsächlich eine reelle Zahl ist. Beides ist selbstverständlich ohne axiomatischen Aufbau kaum möglich. Wir haben hier also die paradoxe Situation, dass die Autoren einerseits versuchen einen Beweis zu führen (was Kenntnis der axiomatischen Methode voraussetzt) aber anderseits niemals den zugrunde liegenden Stoff axiomatisch entwickelt haben.

Jetzt also zum Beweisversuch selber. Zunächst zitiere ich unkommentiert den Beweis wie er auf Seite 10 in Lambacher Schweitzer 9 (1) steht:

Nimmt man an, dass $\sqrt{2}$ eine rationale Zahl ist, so muss sie sich als Bruch $p\over q$ darstellen lassen.
Jeder Bruch lässt sich vollständig kürzen, also darf man $p$ and $q$ als teilerfremd annehmen.
$\sqrt{2}$ muss zwischen 1 und 2 liegen, denn es gilt $1^2 < 2 < 2^2$. Also gilt $q\neq 1$.
Es gilt dann $\sqrt{2}^2=\frac{p\cdot p}{q\cdot q}$. Dieser Bruch lässt sich ebenfalls nicht kürzen und sein Nenner ist $\neq 1$.
$\sqrt{2}^2$ ist also gewiss keine ganze Zahl, insbesondere nicht gleich zwei.
Die oben getroffene Annahme, dass $\sqrt{2}$ eine rationale Zahl ist, führt also zu einem Widerspruch. Er lässt sich nur dadurch vermeiden, dass man die Annahme als falsch ansieht. $\sqrt{2}$ ist also keine rationale Zahl, in Zeichen $\sqrt{2}\notin \mathbb{Q}$.

Alles klar? Ich hoffe nicht, denn zwei zentrale Aussagen werden garnicht bewiesen. Um dies zu zeigen, zitiere ich im folgenden jeden einzelnen Beweisschritt aus dem Schulbuch und kommentiere ihn mit meinen eigene Überlegungen:

Lambacher Schweitzer 9 Kommentar
Nimmt man an, dass $\sqrt{2}$ eine rationale Zahl ist, so muss sie sich als Bruch $p\over q$ darstellen lassen. Klar, das folgt aus der Definition der rationalen Zahlen als Brüche.
Jeder Bruch lässt sich vollständig kürzen, also darf man $p$ und $q$ als teilerfremd annehmen. Die Primfaktorzerlegug ganzer Zahlen und das Kürzen von Brüchen haben wir schon in der fünften und sechsten Klasse kennengelernt. Zur Erinnerung, man kann jede ganze Zahl eindeutig in Primfaktoren zerlegen (das ist der Fundamentalsatz der Arithmetik) und dann gemeinsame Faktoren im Nenner und Zähler wegkürzen.
$\sqrt{2}$ muss zwischen 1 und 2 liegen, denn es gilt $1^2 < 2 < 2^2$. Also gilt $q\neq 1$. Die Autoren wollen zeigen dass $q\neq 1$ gilt. Dabei argumentieren sie, dass $1^2 < 2 < 2^2$ $\Rightarrow$ $1<\sqrt{2}<2$ gilt und daraus dann $q\neq 1$ folgt. Allerdings muss die erste Behauptung bewiesen werden, was die Autoren versäumen. Dazu könnten wir die oben erwähnte Behauptung, dass $0 < a < b$ $\Rightarrow$ $\sqrt{a} < \sqrt{b}$ gilt, beweisen. Wir können $q\neq 1$ aber auch einfacher zeigen, wie wir unten sehen werden.
Es gilt dann $\sqrt{2}^2=\frac{p\cdot p}{q\cdot q}$. Dieser Bruch lässt sich ebenfalls nicht kürzen und sein Nenner ist $\neq 1$. $\sqrt{2}^2=\frac{p\cdot p}{q\cdot q}$ bzw. $2=p^2/q^2$ ist klar, wir quadrieren einfach beide Seiten der Gleichung. Jetzt tappen die Autoren aber schon wieder in die Falle. Die Aussage "Dieser Bruch lässt sich ebenfalls nicht kürzen" ist zentral für den Beweis und muss begründet werden! Um den Beweis zu retten müssen wir also zeigen, dass aus $p,q$ teilerfremd auch $p^2, q^2$ teilerfremd folgt.
$\sqrt{2}^2$ ist also gewiss keine ganze Zahl, insbesondere nicht gleich zwei. Äußerst mißverständlich und verwirrend formuliert. Besser geht es so: Zum einen gilt also $2=p^2/q^2$ und zum anderen ist $p^2/q^2\notin\mathbb{N}$, also zusammen $2\notin \mathbb{N}$. Das ist offensichtlich ein Widerspruch.
Die oben getroffene Annahme, dass $\sqrt{2}$ eine rationale Zahl ist, führt also zu einem Widerspruch. Er lässt sich nur dadurch vermeiden, dass man die Annahme als falsch ansieht. $\sqrt{2}$ ist also keine rationale Zahl, in Zeichen $\sqrt{2}\notin \mathbb{Q}$. Klar. Das heißt solange man sich mit der Methode des indirekten Beweises (Beweis durch Widerspruch) wohl fühlt. Tatsächlich wird die oberflächliche Darstellung im Buch der Beweismethode nicht gerecht. Der Leser möge mir verzeihen, aber dieses Faß möchte ich hier nicht auch noch aufmachen.

Zusammenfassend würde ich diesen Versuch Mathematik zu betreiben folgendermaßen charakterisieren:

Jetzt möchte ich noch einen eigenen, in sich weitgehend geschlossenen Beweis angeben, der die Mängel aus Lambacher Schweitzer 9 (1) vermeidet und damit auch hoffentlich besser nachvollziehbar wird. Meine Darstellung ist nur für den interessierten Leser gedacht und soll nicht die Darstellung im Buch ersetzen. Das würde keinen Sinn machen, denn es fehlen im G8 Mathematiklehrplan und damit auch n den Schulbüchern jegliche Grundlagen, um mathematisches Schließen didaktisch sinnvoll durchführen zu können. Auch halte ich es für eher fragwürdig, ob die Lehrkräfte die nötige Voraussetzungen überhaupt mitbringen, diesen Stoff verständlich vermitteln zu können. Diese Voraussetzungen scheinen jedenfalls bei den Pädagogen des Schulbuchteams zu fehlen, wie ich oben zeigte.

Behauptung: $\sqrt{2}$ ist keine rationale Zahl.

Beweis (durch Widerspruch):

Nimmt man an, dass $\sqrt{2}$ eine rationale Zahl ist, so muss sie sich als Bruch

\begin{equation}\label{l1} \sqrt{2}={p\over q} \end{equation}

darstellen lassen. Wir können $p$ und $q$ als teilerfremd annehmen. Das ist klar, da wir jede ganze Zahl eindeutig in Primfaktoren zerlegen (Fundamentalsatz der Arithmetik) und dann gemeinsame Faktoren im Nenner und Zähler wegkürzen dürfen. Aus $\eqref{l1}$ folgt durch quadrieren beider Seiten

\begin{equation}\label{l2} \sqrt{2}^2=2=\frac{p^2}{q^2}. \end{equation}

Nehmen wir an $p^2$ und $q^2$ seien teilerfremd und dass $q^2\neq 1$ gilt. Dann folgt $p^2/q^2\notin\mathbb{N}$. Das steht aber im Widerspruch zu $\eqref{l2}$, sodass unsere Annahme $\sqrt{2}=p/q$, bzw. $\sqrt{2}$ is rational, falsch sein muss. Wenn wir also \begin{align} p, q \text{ teilerfremd } &\Rightarrow p^2, q^2 \text{ teilerfremd, sowie}\label{b1}\\ q^2 &\neq 1\label{b2} \end{align}

zeigen können (genau dies haben die Schulbuchautoren nicht getan), sind wir fertig (haben bewiesen, dass $\sqrt{2}\notin \mathbb{N}$).

Damit haben wir gezeigt, dass sich der Bruch $p^2/q^2$ nicht weiter kürzen läßt und $q^2\neq 1$ ist, also dass $p^2/q^2\notin\mathbb{N}$ gilt. Dann muss aber $\eqref{l2}$ falsch sein, was wiederum im Widerspruch zu unserer Annahme steht, dass $\sqrt{2}=p/q$ gilt. Also gilt $\sqrt{2}\notin\mathbb{Q}$. $\square$

Jetzt wollen wir noch wie weiter oben versprochen zeigen, dass $0 < a < b \Rightarrow \sqrt{a} < \sqrt{b}$ gilt. Auch dies haben die Schulbuchautoren in ihrem Beweisversuch versäumt.

Behauptung: $0 < a < b\Rightarrow \sqrt{a} < \sqrt{b}$

Beweis: Angenommen $0 < a < b\Rightarrow \sqrt{a} \geq \sqrt{b}$.

Fall $\sqrt{a} > \sqrt{b} \Rightarrow$ \begin{align*} \sqrt{a} - \sqrt{b} &> 0 &\Rightarrow\\ \left(\sqrt{a} - \sqrt{b}\right)\left(\sqrt{a} + \sqrt{b}\right) &> 0 &\Rightarrow\\ a - b &> 0 &\Rightarrow\\ a &> b \end{align*} Das ist ein Widerspruch, da nicht gleichzeitig $a < b$ und $a > b$ gelten kann!

Fall $\sqrt{a} = \sqrt{b}$ $\Rightarrow a = b \Rightarrow$ Widerspruch, da nicht gleichzeitig $a < b$ und $a = b$ gelten kann!

Die Annahme $0 < a < b\Rightarrow \sqrt{a} \geq \sqrt{b}$ führt also immer zu einem Widerspruch, so dass $0 < a < b\Rightarrow \sqrt{a} < \sqrt{b}$ gelten muss. $\square$

Dabei haben wir nur folgende Aussagen benutzt:

\begin{align*} & a < b, c > 0 \Rightarrow ac < bc \\ & a < b, c < 0 \Rightarrow ac > bc \\ & (a+b)c = ac + bc \text{ (Distributivgesetz)} \end{align*} Wobei die ersten beiden Regeln für Ungleichungen aus den Annordnungsaxiomen folgen und das Distributivgesetz ein Körperaxiom ist.


Bibliography

[1] August Schmid, Ingo Weidig, et.a. Lambach Schweizer 9 Mathematik für Gymnasien. Ernst Klett Verlag 2007.

Created 2018-11-04 Olaf Behrendt Last modified: 2019-05-20